• Digitale Transformation

Datum

31. Aug 2025

Die stille Transformation – Warum KMU plötzlich Softwarehäuser werden (1/2)

„Fokussiere dich auf deine Kernkompetenz – den Rest lagerst du besser aus.“
Diese betriebswirtschaftliche Faustregel hat über Jahrzehnte gut funktioniert. Sie stammt ursprünglich aus der strategischen Managementlehre, wurde durch das Konzept der Core Competencies von Prahalad und Hamel populär – und hat besonders im Mittelstand tiefe Spuren hinterlassen.

Für viele KMU im Dienstleistungsbereich bedeutete das: IT war nie Teil des Kerngeschäfts. Man konzentrierte sich auf Kund:innen, Produkte, Prozesse – und überliess die technischen Fragen Spezialist:innen. Infrastruktur wurde eingekauft, Software zugekauft, Entwicklungen outgesourct.

Doch genau dieses Modell steht zunehmend unter Druck. Denn was früher unterstützend war, wird heute geschäftskritisch und strategisch.

Vom Unterstützer zur Wertetreiberin

Die Digitalisierung hat die Spielregeln verändert. Sie verlagert nicht nur Abläufe ins Digitale, sondern auch die Wertschöpfung selbst.

Ein Kundenportal ist heute nicht mehr nur ein „Add-on“, sondern oft der zentrale Zugang zum Service. Eine smarte Automatisierung im Backoffice entscheidet über Skalierbarkeit. Und ein gutes Datenmodell kann den Unterschied machen zwischen Durchschnitt und Spitzenleistung.

Technologie ist damit nicht länger nur ein Werkzeug – sie wird zur Mitgestalterin von Qualität, Kundenerlebnis und Wettbewerbsfähigkeit.

Und genau hier beginnt die stille Transformation: Ohne es explizit zu wollen, entwickeln sich viele KMU Schritt für Schritt zu Unternehmen mit digitalem Kern. Sie betreiben Systeme, verwalten Daten, entwickeln Prozesse weiter – und übernehmen Verantwortung für Software, die eng mit ihrem Leistungsversprechen verknüpft ist.

Kein Plan, aber viel Bewegung

Diese Entwicklung geschieht selten strategisch geplant. Viel häufiger beginnt sie unauffällig:

Ein Team entwickelt ein eigenes Tool zur Angebotserstellung. Die Buchhaltung führt ein cloudbasiertes ERP ein. Marketing setzt auf automatisierte Kampagnen. Die Geschäftsleitung wünscht sich ein Dashboard mit Echtzeitkennzahlen.

Jedes einzelne Vorhaben erscheint sinnvoll. Doch in Summe entsteht eine technische Landschaft, die kaum mehr rein operativ zu führen ist.

Spätestens wenn mehrere Fachbereiche digitale Lösungen betreiben, stellt sich die Frage: Wer koordiniert das Ganze? Wer trägt Verantwortung, wenn sich Systeme gegenseitig blockieren, Daten fehlen oder die Security leidet?

Die Grenze des Outsourcings

Natürlich bleibt es sinnvoll, externe Expertise einzubinden. Niemand muss alles selbst entwickeln. Aber: Man kann Verantwortung nicht dauerhaft auslagern.

Denn je näher Technologie an das Kerngeschäft rückt, desto mehr braucht es intern:

  • Ein Grundverständnis für Softwarearchitektur und Abhängigkeiten

  • Entscheidungsfähigkeit bei Technologiefragen

  • Ein Gefühl dafür, was digitaler Erfolg im eigenen Markt bedeutet

  • Eine strategische Sicht auf die Technologie und deren Steuerung

Wenn zentrale Bestandteile des Angebots digitalisiert sind, genügt es nicht mehr, einfach den IT-Dienstleister anzurufen. Dann geht es um unternehmerische Entscheidungen, die Führung, Priorisierung und Ownership im Unternehmen selbst verlangen.

Der neue Status quo

Viele KMU befinden sich längst in diesem Übergang – oft ohne es bewusst zu merken. Sie haben digitale Abhängigkeiten aufgebaut, aber keine entsprechenden Strukturen geschaffen. Sie entwickeln Softwareprodukte, ohne über Produktverantwortung zu verfügen. Oder sie betreiben digitale Plattformen, ohne ein nachhaltiges Betriebsmodell zu haben.

Diese Diskrepanz erzeugt Risiken: Frust in den Fachbereichen, Abhängigkeit von Einzelpersonen, hohe Wartungskosten, technischer Wildwuchs – und im schlimmsten Fall: Innovationsstau.

Fazit: Neue Realität, neue Antworten

Die alte Regel, sich auf das Kerngeschäft zu fokussieren, bleibt richtig – aber sie muss neu interpretiert werden. Denn wenn „digital“ selbst zum Teil des Geschäfts wird, dann ist es keine Unterstützungsfunktion mehr, sondern gehört zur Kernkompetenz.

Für viele KMU bedeutet das:
Sie sind längst keine reinen Dienstleister mehr – sie sind digitale Unternehmen mit fachlicher DNA.

Im zweiten Teil dieser Serie zeigen wir, was das konkret für die Unternehmensführung bedeutet – und warum Digitalisierung heute nicht nur eine technische, sondern vor allem eine strategische und finanzielle Aufgabe geworden ist.

Rico Blumenthal - avega IT AG

Rico Blumenthal

Agile Consultant

Digitalisierung bewusst und nachhaltig als Wettbewerbsvorteil nutzen?

Melde dich für ein unverbindliches Speedcoaching